Der ganz normale Wahnsinn – „Jeder Arbeitnehmer ist kündbar“

Das Arbeitsverhältnis ist für jeden Arbeitnehmer nicht nur Grundlage seiner wirtschaftlichen Existenz, sondern für viele Menschen auch Lebensinhalt und Möglichkeit, Fähigkeiten und Talente in der Praxis umzusetzen.

Die Wichtigkeit eines funktionierenden Arbeitsverhältnisses für den einzelnen Arbeitnehmer kann vor diesem Hintergrund gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

In Anbetracht des Stellenwertes eines Arbeitsverhältnisses für den einzelnen Arbeitnehmer hat sich der deutsche Gesetzgeber auch dazu entschlossen, den Bestand des Arbeitsverhältnisses besonders zu schützen. So gilt das deutsche Kündigungsschutzrecht im internationalen Vergleich als besonders streng und arbeitnehmerfreundlich.

Nach einer gewissen Probezeit, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Gelegenheit geben soll, sich näher kennenzulernen, ist eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber nur noch bei Vorliegen eines besonderen Grundes möglich. Wenn der Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber weder durch in seinem Verhalten noch in seiner Person liegenden Umstand einen Grund für eine Kündigung gibt und das Unternehmen wirtschaftlich auf gesunden Füßen steht, ist der Bestand des Arbeitsverhältnisses, so sieht es das aktuelle Kündigungsschutzrecht vor, sicher.

Theorie und Praxis klaffen auseinander

Leider klaffen die gut gemeinten Ansätze des deutschen Kündigungsschutzrechts und die alltägliche Praxis oft weit auseinander.

Dass der Kündigungsschutz in Deutschland alles andere als eine wasserdichte Angelegenheit ist, schwant einem schon dann, wenn Advokaten durch die Lande ziehen, die sich selber das auch in Buchform veröffentlichte Motto „Kündigung der Unkündbaren“ auf ihre Fahnen geschrieben haben.

Auch löst ein Arbeitgeber, der seinem Mitarbeiter, den er zu kündigen gedenkt, frank und frei mitteilt, dass er über besondere Kenntnisse in Sachen Kündigung verfügt und noch keinen seiner zahlreichen Arbeitsgerichtsprozesse verloren hätte, im besten Fall Verwunderung, in der Praxis jedoch eher Beklemmung aus.

Und tatsächlich gibt es in er bundesdeutschen Arbeitswelt Praktiken, die bei dem Betroffenen am Ende den Eindruck verfestigen, dass nicht die Gerechtigkeit oder der Kündigungsschutz, sondern im Zweifel der Stärkere gewinnt.

Eine Kündigung ist nicht genug

Jeder Jurastudent lernt im zweiten Semester die Begründetheit einer arbeitsrechtlichen Kündigung zu prüfen. Da wird sauber zwischen personen-, verhaltens- und betriebsbedingten Kündigungsgründen und zwischen einer ordentlichen sowie einer außerordentlichen Kündigung unterschieden.

Am Ende der Subsumtion und einer sorgfältigen Abwägung aller für und gegen die Kündigung sprechenden Argumente steht dann für den Studenten entweder die Begründetheit oder eben die Sozialwidrigkeit der Kündigung des Arbeitnehmers.

In der Lebenswirklichkeit angekommen stellen die mit dem Arbeitsrecht befassten Berufsjuristen dann aber fest, dass Arbeitgeber und ihre entsprechend gepolten Berater das Kündigungsrecht in einer ganz eigenen Weise interpretieren.

So ist es zum Beispiel keinem Arbeitgeber verwehrt, einem missliebigen Arbeitnehmer nicht nur eine, sondern im Zweifel gleich ein Dutzend Kündigungen ins Haus zu schicken. Der von einer solchen Kündigungswelle getroffene Arbeitnehmer hat hier im Einzelfall bereits Schwierigkeiten, all die ordentlichen und außerordentlichen Kündigungen mitsamt einer Vielzahl arbeitsrechtlicher Abmahnungen sauber voneinander zu trennen und im Hinblick auf die für jede einzelne Kündigung einzuhaltende Frist für die jeweils fällige Kündigungsschutzklage den rechten Überblick zu behalten.

Arbeitgeber schafft ein Klima der Angst

Arbeitgeber, die solche Kündigungspraktiken favorisieren, schaffen zeitgleich für den betroffenen Arbeitnehmer auch ein Klima der Angst und der Überwachung. Dem Arbeitnehmer soll klar sein, das jedes auch noch so kleine Fehlverhalten unweigerlich zur erneuten Abmahnung und/oder Kündigung führt. Auch standfeste Mitarbeiter, die dem Unternehmen im Einzelfall seit Jahren treue Dienste erwiesen haben, werden auf diesem Weg irgendwann mürbe.

Wie reagiert das Arbeitsgericht?

In die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit sollte der dergestalt attakierte Arbeitnehmer keine allzu großen Hoffnungen setzen.

Der Richter am Arbeitsgericht, der über eine Kündigungsschutzklage zu entscheiden hat, hat den ihm angebotenen Sachverhalt zunächst einmal objektiv und unvoreingenommen zur Kenntnis zu nehmen. Die Tatsache, dass er es in diesem Fall nicht nur mit einer, sondern eben mit einem Dutzend arbeitgeberseitiger Kündigungen zu tun hat, heißt für den Arbeitsrichter zunächst einmal, dass er – abweichend von der Norm – nicht einen, sondern gleich zwölf verschiedene Kündigungssachverhalte aufzuarbeiten hat.

Einen Rechtsgrundsatz, wonach man bei einem Dutzend Kündigungen getrost davon ausgehen darf, dass zumindest ein Teil dieser Kündigungen vom Arbeitgeber provoziert und relativ inhaltsleer ist, gibt es nicht.

Das Arbeitsgericht macht sich also an die Arbeit und urteilt eine Kündigung nach der anderen ab. Über die Berechtigung einer jeden einzelnen Kündigung wird dann gegebenenfalls ein Teilurteil gesprochen, um beiden Parteien die Möglichkeit zu geben, Berufung zum Landesarbeitsgericht einzulegen.

Im Zweifel kämpft der Arbeitnehmer hier also an mehreren Fronten gleichzeitig und soll zeitgleich – sofern nicht vom Dienst suspendiert – seinen Job bei seinem Arbeitgeber pflichtgemäß erfüllen.

Man muss kein Prophet sein, um voraussagen zu können, dass ein solches Prozedere die Kräfte eines normalen Arbeitnehmers übersteigt. In der Regel kapituliert der betroffene Arbeitnehmer irgendwann und kann aus der unerfreulichen Angelegenheit bestenfalls noch die Lehre ziehen, dass auch ein gut gemeintes Kündigungsschutzrecht keine Gewähr dafür bietet, dass sich beinharte und skrupellose Arbeitgeber am Ende nicht doch durchsetzen.